Heilerde - eine lange Geschichte

 

Die vier Elemente des griechischen Politikers, Arztes und Philosophen Empedokles (geb. um 490 v. Chr.), Feuer, Luft, Erde und Wasser wurden in der Heilkunde der Antike nicht nur als philosophische Kategorien betrachtet, sondern auch im materiellen Sinne als Heilmittel angesehen und genutzt. Eine große Rolle in diesem Konzept spielte die Anwendung von Erden. Empedokles machte die Selinusische Erde bekannt als Mittel gegen Gifte und Verletzungen. Der durch seine pharmakologischen Schriften herausragende Herakleides von Tarent (ca. 75 v. Chr.) empfahl Weinstockerde aus Syrien. Plinius (23 v. Chr.-9) berichtet in seiner "Historia naturalis" sehr ausführlich über verschiedene Erden, die er gegen Erkrankungen des Magens und Darms und bei äußerlicher Anwendung gegen Geschwüre preist. Nachdem Dioskurides in seinem Werk "De materia medica" (Mitte des 1. Jh.) für die „heilenden Erden“ eingetreten war, erlebte die Heilerde-Anwendung mit Claudius Galenus (129-201) ihren Höhepunkt. Er verwendete Lemnische, Samische und Armenische Erde. Man kann sagen, daß die wichtigsten Indikationen für die Anwendung von Erden auf Galenus zurückgehen. Bis zum Ende des Mittelalters wurden keine wesentlichen Fortschritte mehr erzielt. Lediglich Paracelsus (1493-1541) verwendete europäische Heilerde in nennenswertem Umfang bei seinen Arzneimittelzubereitungen.

Aber der Gedanke von der Einheit des Göttlichen mit der Natur, die Verbindung von Philosophie, Religion und Heilkunde überdauerte die Zeiten und spielte besonders in der naturheilkundlichen und Lebensreform- Bewegung des späten 18., des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Die "Naturärzte" jener Zeit waren zutiefst religiös geprägt wie Adolf Just oder selbst Priester wie Sebastian Kneipp (1821-1897) und Leopold Emanuel Felke (1856-1926). Sie sahen den Menschen als Geschöpf Gottes und die Schöpfung in ihrer Gesamtheit: Wer sich Gott anvertraut, muß sich auch der Natur zuwenden, denn sie ist Teil der Schöpfung. So fordert Just nicht nur wie Jean-Jaques Rousseau (1712-1778) "Retournons à la nature". Er erweitert diese Maxime noch, wenn er sagt: "Kehrt zur Natur und zu Gott zurück!" In seinem Hauptwerk bezeichnet er "die naturgemäße Lebensweise als einziges Mittel zur Heilung aller Krankheiten des Leibes, des Geistes und der Seele". Hier schreibt Just:

 

"Die Menschheit forscht und sucht unaufhörlich nach neuen Heilmitteln. In ewig wechselndem Irrtum werden mit all den Heilmitteln einer blühenden chemisch-pharmazeutischen Industrie unaufhörlich Versuche an Kranken gemacht. Sie müssen stillhalten, bis gar oft das Mittel als wertlos, selbst gefährlich erkannt ist. Neue Versuche beginnen mit neuen Mitteln und alten Misserfolgen. Die armen geplagten Menschen kommen aus einer Gefahr in die andere, rastlos und ruhelos wird mit körperfremden giftigen Mitteln probiert, geschmiert, gespritzt, oder es werden solche eingenommen. Die Natur indes ist von Urbeginn in ihren Gesetzen und Forderungen unveränderlich. Mit dem Abfall des Menschen von Gott trat auch bald der Abfall von der Natur ein, und die nächsten Folgen waren Krankheit und Elend…Es ist eine ernste Sache mit der Heilung von Krankheiten. Auf keinem Gebiet werden größere Fehler gemacht als auf dem der Krankenheilung. Ein Irrtum löst den anderen ab. Man sollte sich dessen bewusst werden. Ich wurde seltsam geführt. Schon in früher Jugend von der Schulwissenschaft im Stich gelassen, suchte ich verzweiflungsvoll Hilfe in der Natur. Ich erkannte schließlich, dass nur die Natur heilen kann. Es war eine Wendung in meinem Leben, als ich endlich die ewig unveränderliche Ordnung in der Natur erkannte und der Stimme zur Heilung von Krankheiten folgte. Ich erkannte nun bald auch das größte Heilmittel der Natur: die Erde."

 

Just hat die Rückkehr zur Natur nicht als Weltflucht betrachtet, sondern, wie er sich ausdrückt, "als eine Erfüllung der natürlichen Lebensbedingungen, als eine gewisse Pflichterfüllung." Er verstand Rousseaus Wort nach einer Bemerkung von Günther Stolzenberg als "Aufforderung, Ehrfurcht zu haben vor der Ganzheit des Lebendigen". Nach Alfred Brauchle (1898-1964) hat Adolf Just "als der geistig-religiöse Durchdringer der Volksmedizin zu gelten."

Bei Empedokles standen Götter für die unveränderlichen Elemente: Zeus für das Feuer, Hera für die Luft, Hades für die Erde und Nestis, die sizilianische Göttin des Feuchten, für das Wasser. Die Liebe, verkörpert durch Aphrodite, fügte die Elemente harmonisch zusammen (sie heilte), der Haß spaltete. Adolf Just formulierte es so: "Wenn du wüsstest, was Liebe wäre, wärst du nicht dauernd krank. Liebe ist Leben." Und an anderer Stelle: "Alle Menschen, die etwas leisten wollen, nehmen die Natur zu Hilfe. Gott ist so nahe, und die Handvoll Erde, das Wasser, die Luft und die Sonne sind auch so nah."

Die Kräfte der Urelemente wurden seit Menschengedenken für Heilzwecke genutzt: Wärme- und Kälteanwendungen, Wasser und Luft als Reiz- und Regulationstherapie. Erwähnt seien die Schwitzbäder der kleinasiatischen Skythen, das trockenheiße Schwitzbad der Griechen, die Bäder der Spartaner, die Thermenkultur der Römer bis hin zur Sauna unserer Tage, deren Ursprünge mehr als 2000 Jahre zurückliegen. Die Kaltwasseranwendungen der Antike, jahrhundertelang vergessen, erlebten eine Renaissance durch die schlesischen Ärzte Johann Siegmund Hahn (Vater und Sohn) im 18. Jh., den "Wasserdoktor" Vinzenz Prießnitz (1799-1851) und besonders Sebastian Kneipp (1821-1897). Auch die Klimatherapie hat seit den Zeiten des Hippokrates (um 460-370 v.Chr.) antike Ursprünge.

Aus ihren klassischen Wurzeln heraus wird ersichtlich, dass "Naturheilkunde" vor allem Erfahrungsheilkunde ist. Für ihre Protagonisten stand bis ins 20. Jahrhundert hinein die Beobachtung der Natur, der man unbedingt vertraute und die Selbsterfahrung im Vordergrund. Die Frage nach dem "Wie?" der erlebten Heilwirkungen stellte sich meist nicht. Nicht die Erforschung von Kausalitäten war wichtig, sondern die Herstellung oder Wiedergewinnung der Harmonie von Mensch und Natur inmitten einer "unnatürlichen Zivilisation", die ganzheitliche Sicht von Körper, Geist und Seele. Paracelsus fordert: "Wie die Natur will, also soll der Arzt auch wollen" und weiter "Dies soll der Arzt wissen, die Natur ist auch ein Arzt, eine Apotheke und eine Arznei". Für Paracelsus und für Just ist die Natur allein das Maß der Medizin und das Leitbild des ärztlichen Handelns.

Dieser philosophische Ansatz ermöglichte zwar beachtliche Heilerfolge, erschwerte aber den Zugang des naturwissenschaftlich geprägten Arztes zu einem ihm fremden Denken und führte damit zur Ablehnung nicht wissenschaftlich verifizierter Methoden. Adolf Just sagt: "Am schwersten haben es die Akademiker und davon besonders die Ärzte – sie müssen vergessen."

Alfred Brauchle schreibt: "Die Naturheilkunde ist zunächst keine Wissenschaft, sondern eine Naturphilosophie oder, wenn man will, eine Religion. Sie geht nicht von einem genauen Wissen um sichere Beziehungen, sondern vom Glauben um mögliche und wahrscheinliche Zusammenhänge aus. Sie glaubt an ein sinnvoll tätiges Walten der Natur. Sie ist davon überzeugt, dass die Fähigkeit zur äußeren Selbsterhaltung und zur innerlichen Selbststeuerung Grundkräfte des Lebens sind. Das Vertrauen zu dem, was "innen von selbst" wirkt, zum "inneren Arzt", zur "Naturheilkraft", zum "Gott im Menschen" ist sehr groß."

Oft fehlen daher die Belege für die Wirksamkeit von "Feuer, Luft und Wasser" im klinischen Versuch, nicht, weil sie nicht zu erbringen wären, sondern weil sie nach diesem Konzept „nicht erforderlich“ sind. Dies gilt z. T. auch für die Anwendung von Erde als Heilmittel. Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert schreibt Adolf Just : "Wie die Erde als Heilmittel, in Form von Umschlägen und Verbänden angewendet, zu erklären ist, wird uns in mancher Hinsicht verborgen bleiben. Wir wissen, daß die überaus große Heilwirkung da ist und wollen gläubig dies Geheimnis der Mutter Erde annehmen, das uns die Heilkraft der Natur vollkommen gibt ..." Allerdings fügt er hinzu: "Die Erde kühlt, löst, reinigt, wirkt aufsaugend und heilend."

 

Seit dem Erscheinen von Adolf Justs Buch "Kehrt zur Natur zurück!"

ist mehr als ein Jahrhundert vergangen. Es wurde zu einem Klassiker der Naturheilkunde, erlebte zahlreiche Auflagen, wurde ins Französische, Englische, Italienische und Spanische übersetzt und machte seinen Verfasser weit über die Grenzen Deutschlands bekannt, insbesondere in den USA. Hierzu trug auch die von Just begründete Kureinrichtung "Jungborn" im Eckertal (Harz) bei.

Der "Jungborn, Luftkurort, Lehranstalt für naturgemäße Heil- und Lebensweise", wie die Kureinrichtung dem Zeitgeist entsprechend programmatisch hieß, war im Jahre 1896, dem Erscheinungsjahr des Buches, von Adolf Just eröffnet worden.

Der Schweizer Arzt und Ernährungswissenschaftler Dr. Bircher-Benner (1867-1939) schrieb im Jahre 1931 über Adolf Just und sein Buch: "Möchten doch vor allem die Studenten der Medizin und die jungen Ärzte seinen Inhalt sich zu Gemüte ziehen. Es weht daraus ein frischer Wind der Erneuerung aller Therapie. Der dies schrieb, hat die Therapie nicht erlernt, er hat sie erlebt." Jahrzehntelang verbesserte und erweiterte Just sein Werk um Erkenntnisse, die er bei der Behandlung vieler Tausender Menschen aus aller Welt gewonnen hatte, die im "Jungborn" Linderung und Heilung ihrer Krankheiten und Beschwerden suchten. Darunter befanden sich bekannte Persönlichkeiten wie der Dichter Franz Kafka, der Pfarrer von Bodelschwingh, der später als "Lehmpastor" bekanntgewordene Emanuel Felke, um nur einige zu nennen.

Der aus heutiger Sicht prominenteste Kurgast war Franz Kafka. Er hatte vor seinem Eintreffen im „Jungborn“ eine schwerwiegende psychische und Schaffenskrise durchlitten, empfand gar ein „Versiegen seiner Schaffenskraft“ und hoffte offenbar, hier Wege aus dem Tief zu finden. Denn Just hat die Kranken immer wieder zur Selbstbesinnung aufgefordert und ihnen erklärt, daß sie gesund werden könnten, wenn sie nicht passiv die Hände in den Schoß legten und warteten, sondern aktiv an der Genesung mitarbeiteten.

Franz Kafkas Notizen im „Jungborn“ sind nicht nur von literaturhistorischem Interesse, sie vermitteln auch ein authentisches Bild von der praktischen Umsetzung der Ideen Justs aus der Sicht eines Patienten. Motive seiner Jungbornzeit (Schützenfest in Stapelburg) verarbeitete Kafka im Kapitel „Das Naturtheater von Oklahoma“ seines Romanfragments „Der Verschollene“.

Kafka nahm aktiv am Leben im „Jungborn“ teil und reflektiert die Justsche „naturgemäße Lebensweise " medizinkritisch" und gelegentlich sarkastisch in seinen Notizen.

Franz Kafka, einer der bedeutendsten deutschsprachigen Erzähler des 20. Jahrhunderts, hat dem „Jungborn“ und mit ihm der Naturheilkunde seiner Zeit ein literarisches Denkmal gesetzt.

Einen bleibenden Namen in der Geschichte der Naturheilkunde hat sich Adolf Just besonders als Wiederentdecker der Erde als Heilmittel verdient. Er ist Schöpfer des Begriffs "Heilerde", worunter er ursprünglich den Lehm für die äußerliche Anwendung z. B. bei Hauterkrankungen und Beschwerden der Muskeln und Gelenke, später speziell aufbereiteten Löss verstand, den er als erster für die innerliche Anwendung bei Erkrankungen von Magen und Darm empfahl. Justs Anliegen war es, in Fortentwicklung der Lehren von Kneipp und Kuhne, Gesunde und Kranke zu einer naturgemäßen Lebensweise zu ermutigen. Hierzu gehörten Licht, Luft, Wasser und Erde. Er hat als einer der ersten auf die Bedeutung der Rohkost hingewiesen, war Fürsprecher des Heilfastens und des Morgenfastens und nahm den Begriff "naturgemäße Lebensweise" wörtlich: Neben einer speziellen Jungborn-Kost, bestehend aus Vollkornbrot, Obst, besonders Nüssen, Beeren, Salaten, rohem und gedünstetem Gemüse und Säften, empfahl er seinen Kurgästen körperliche Arbeit, Bewegung im Freien, das Schlafen auf der bloßen Erde unter freiem Himmel oder in Lufthütten sowie luftdurchlässige, nicht einengende Kleidung und wann immer möglich, auf Bekleidung ganz zu verzichten. Getreu seinem Motto „Kehrt zur Natur und zu Gott zurück“ hielt er seine Patienten auch immer wieder zum Studium der Bibel an. Er war, wie Rudolf Just (1877 – 1948) schreibt "immer mehr Priester als Arzt". Adelheid von Bodelschwingh (1869-1950), selbst mehrfach zur Kur im Jungborn, zitierte aus den Vorträgen von Just: "Erst muß der innere Mensch gesund werden, dann kommt der äußere. Wenn wir uns nicht geistlich und sittlich vervollkommnen wollen, hat das Gesundwerden allein keinen Zweck".

Nachdem er 1908 den Jungborn an seinen Bruder Rudolf übergeben hatte, beschäftigte sich Adolf Just mit naturgemäßem Garten- und besonders Obstbau und war damit schon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Wegbereiter der ökologischen Landwirtschaft unserer Tage. Just wurde mit seinen Vorträgen im Jungborn und mit seinen Schriften Lehrer von Generationen der Naturheilkunde verpflichteter medizinischer Laien wie Felke und Mahatma Gandhi, Ernährungsforschern wie Ragnar Berg aber auch von Ärzten wie Brauchle, Vogel, Kötschau, Stolzenberg, Schoenenberger, Thomsen, Klein, Jansen, Jung, Mayer-Camberg u.v.a.  

Unter den Akademikern ragen der Würzburger Chirurg Julius Stumpf (1856-1932), der beachtliche Ergebnisse bei der Wundbehandlung sowie bei der Therapie nässender und eiternder Geschwüre mit getrocknetem und gepulvertem Lehm erzielte sowie die Universitätsprofessoren Karl Kötschau (Jena) und Martin Vogel (Dresden) hervor. Besonders Vogel machte sich mit zahlreichen präklinischen und klinischen Arbeiten über Heilerde einen Namen. Nach dem Weltkrieg wurde der Naturarzt Ernst Meyer-Camberg, der sich in fast fünfzigjähriger Praxis mit Adolf Justs Heilerde beschäftigte, nahezu zu einem Protagonisten ihrer naturheilkundlichen Anwendung. Der Chemiker und Mineraloge Hermann Jung in Jena trug viel zum Verständnis der Struktur und Pharmakologie von Löß bei. Auch die Kliniker M. O. Bruker, A. Brauchle, W. Thomsen, um nur einige zu nennen, setzten sich für die Behandlung mit Heilerde ein.

Bis auf den heutigen Tag haben sich Fango bzw. Schlamm, Schlick, Lehm  in der Balneotherapie sowie Löß - Heilerde i. eig. S. - für die äußerliche und innerliche Anwendung erhalten.